Marc Chagall
Marc Chagall, um 1920, Foto: Pierre Choumoff, Public domain, via Wikimedia Commons
„Ich öffnete nur mein Zimmerfenster und schon strömten Himmelblau, Liebe und Blumen mit ihr herein.“
Chagall über seine erste Frau Bella
Marc Chagall wurde 1887 als ältestes von sieben Kindern in Witebsk im heutigen Weißrussland geboren.
Die Stadt Witebsk, ein Zentrum jüdischen Lebens, hatte Anfang des 19. Jahrhunderts allerdings kaum etwas von den farbenfrohen und verträumten Bildwelten Chagalls, die heute von einer großen Anhängerschaft verehrt werden. Vielmehr sind es Chagalls frühe Werke, die zwar mit der für ihn typischen Sanftheit der Malerei, aber dennoch nahe an der Realität verankert den Alltag in diesem Umfeld wiedergeben. Zwar war Witebsk – wie Chagall es beschrieb – mit seinem Hafen und aufgrund der Lage ein wichtiger wirtschaftlicher Umschlagplatz mit wachsender Industrie, an dem die Dinge des täglichen Bedarfs für die Bevölkerung greifbar waren. Am Ende des Tages war es aber ein provinzielles Nest. Die Ziegen, Hühner und Kühe, die später auch immer wieder in Chagalls Zeichnungen und Bildern auftauchen, liefen in den nicht asphaltierten Straßen und Hinterhöfen der barackenartigen Häuser umher (Kagan 1989:11).
Und dennoch war die Stadt ein Ort der Kunst, an dem auch Größen der Moderne wie etwa Kasimir Malewitsch wirkten. Ab 1906 begann Chagall schließlich, bei Jehuda Pen, einem jüdischen Maler und Kunstlehrer, zu studieren. Obwohl dieser innerhalb der jüdischen Gemeinschaft als angesehener Künstler geachtet wurde, entschied Chagall schnell für sich, dass er sich nicht am Stil seines Meisters orientieren wollte.
Dieser erschien ihm als zu allgemein, und er erkannte vollkommen richtig, dass die große Herausforderung der Malerei darin lag, Gemälde zu erschaffen, die sich von denen anderer unterscheiden mussten. Diesem Leitsatz folgend war er beispielsweise binnen kurzer Zeit zum einzigen Schüler geworden, der die Farbe Lila verwendete (Kagan 1989:12). Zwar schien er wenig Nutzen aus seiner Ausbildung zu ziehen, aber unter seinen Klassenkameraden fand sich auch ein Kollege, Victor Merkler, der Chagall schließlich dazu überredete, nach Sankt Petersburg zu reisen, um sich dort an der Kunstgewerbeschule zu bewerben, wo er auch aufgenommen wurde. Eine Aufnahme an der Akademie war ausgeschlossen, da Chagall nicht den notwendigen Schulabschluss besaß (Meyer 1961:51–52).
Witebsk, Russland, 1867
Ausbildung und frühe Jahre
Ab 1907 studierte Chagall in der russischen Metropole, er blieb aber weiterhin seinem Geburtsort verbunden, den er regelmäßig besuchte. Vom Sankt Petersburger Umfeld wurde die Kunst seiner frühen Jahre nachhaltig geprägt. An der Kunstgewerbeschule war man zu jener Zeit darum bemüht, für Russland und die russische Volkskunst typische Motive in eine zeitgemäße Form zu übertragen, diese neu zu interpretieren und so an den aufkommenden Neoprimitivismus anzunähern. Eine Tendenz, die auch in Chagalls Arbeiten jener Zeit ausgemacht werden kann, die sich intensiv mit traditionellen Themen auseinandersetzen.
Wegweisend für Chagall wurde aber die Begegnung mit dem Lehrer Léon Bakst, der ihn mit stilistischen Ratschlägen förderte. Auf Baksts Einfluss beruhen schließlich die Reduktion der Farbpalette und die freiere, kurvigere Strichführung, die weniger auf anatomischen Genauigkeiten beharrt (Meyer 1961:49–68). Diese markante Entwicklung in Chagalls Œuvre deutet auch schon auf jene stilistischen Reize hin, die die Paarbilder ausstrahlen, eine Gruppe von intimen Arbeiten, aus denen Les Amoureux, 1916, als besonderer Höhepunkt hervorsticht.
Les Maries au ciel, 1954/56, Bildrecht, Wien 2023, Foto © Heidi Horten Collection
Studium in Paris und Rückkehr nach Weißrussland in den Kriegsjahren
Chagall hatte über seinen Bekannten Victor Merkler auch seine zukünftige Frau Bella Rosenfeld kennengelernt. Sie gehörte einer wohlhabenden jüdischen Familie in Witebsk an, die sich ausgiebig mit den aktuellen Entwicklungen in Kunst und Literatur beschäftigte. Der junge Chagall fand in diesem Kreis eine entsprechende Wertschätzung und wurde wohlwollend in dessen Mitte aufgenommen. Während der Sankt Petersburger Jahre sahen sich die beiden zwar nur sporadisch, doch bereits nach der ersten Begegnung mit Bella war sich Chagall sicher, dass er zu ihr gehörte. Durch diese Verbindung wuchs auch Chagalls Selbstbewusstsein, und er begann vermehrt, sich selbst zu porträtieren (Meyer 1961:83–85). Obwohl er sich unendlich zu Bella hingezogen fühlte, entschied sich Chagall im Jahr 1910, nach Paris zu gehen. Denn für ihn war klar, dass dies der einzige Ort war, an dem er zu jener künstlerischen Reife finden konnte, die ihm seit seiner Zeit bei Pen vorgeschwebt war. Obwohl sich Chagall in der großen Stadt anfangs verloren fühlte, konnte er doch viele Eindrücke gewinnen, die ihn nachhaltig prägten: seine ersten Begegnungen mit den Werken Van Goghs oder anderer großer Künstler der Zeit, deren Arbeiten ihn mit einer kräftigen, impulsiven Farbgebung beeindruckten. Diese Erlebnisse verleihen Chagalls Pariser Bildern jene Strahlkraft, die stark an den französischen Fauvismus angelehnt ist.
„Über Jahrzehnte hat ihre Liebe meine Malerei beinflußt … Ihre Lippen hatten den Beigeschmack des ersten Kusses. Ein Kuss sich nach Gerechtigkeit sehnte.“
Chagall über seine erste Frau Bella
Marc Chagall, Couple au Vase de Fleurs, um 1955, Bildrecht, Wien 2023, Foto © Heidi Horten Collection
Mit großem Interesse verfolgte der junge Künstler die stilistischen Tendenzen der außerordentlich experimentierfreudigen Pariser Szene. Sie begannen in seinem Œuvre zu verschmelzen, und Chagall entwickelte sich hin zu einer Malerei, die sich mit den Ansätzen des Kubismus auseinandersetzte. Jene Phase seines Schaffens brachte Werke von herausragender Qualität hervor. Chagall studierte die unterschiedlichen Auffassungen des Kubismus und näherte sich immer mehr seiner eigenen Vorstellung von diesem Malstil an (Meyer 1961:95–111). Ein richtiger Kubist wurde er aber nie (Kloomok 1951:26). Wie Meyer festhält, gehören „die Kubisierung der Figuren als auch die geometrischen Raumaufteilungen fortan zu Chagalls Kunst“ (Meyer 1961:112). Während dieser Phase kämpfte er regelrecht, um sich von jener Manier zu befreien, die er sich in Witebsk angeeignet hatte (Kloomok 1951:26). Die Nachwirkungen dieser Zeit sind aber noch deutlich in der brillanten Ausführung jener Hauptwerke spürbar, denen auch Les Amoureux zuzuordnen ist.
Der Ausbruch des Krieges zwang Marc Chagall schließlich zur Rückkehr in die Heimat, in der er zwischen 1914 und 1922 wieder lebte. Zuerst in Witebsk in jener provinziellen Umgebung, aus der er Jahre zuvor nach Sankt Petersburg entflohen war und die ihm nach der Pariser Zeit noch unerträglicher vorkam. Die Erlebnisse der Rückkehr begann er in einer Reihe von Gemälden festzuhalten, Szenen, die er aus dem einfachen Alltagsleben, jenem jüdisch geprägten Umfeld, herausgriff, zudem konzentrierte er sich auf Porträts und Selbstporträts (Meyer 1961:219–222).
Aber immerhin war Chagall wieder mit Bella, der Liebe seines Lebens, vereint. Nach Jahren der räumlichen Trennung fassten die beiden endlich den Entschluss, die Erlaubnis ihrer Eltern einzuholen, um heiraten zu können. Die Begeisterung für diese Bindung hielt sich jedoch in Grenzen, denn der Unterschied im gesellschaftlichen Stand und der Beruf des Malers überhaupt lösten bei Bellas Familie große Zweifel aus. Ausdauer und Beharrlichkeit der beiden führten aber am Ende dazu, dass die Brautfamilie einer ehelichen Bindung nicht länger im Wege stand. In dieser glücklichen Zeit der Wiedervereinigung und der Hochzeit entstanden die Serie der Liebespaare und jene Gemälde, die Chagall seiner Braut widmete. Durch das Mittel der Malerei öffnete er ein Fenster zu seinem Herzen und ließ diese intime Werkserie zu einer innigen Liebesbekundung an seine Bella werden.
Die Serie der Liebespaare
Marc Chagall, Les Amoureux, 1916, Bildrecht, Wien 2023, Foto © Heidi Horten Collection
Die Serie der Liebespaare lässt sich in zwei Phasen gliedern. Zum einen sind es die Bilder, die in den Jahren 1914 und 1915 vor der Hochzeit entstanden sind. Diese Porträts bilden die glückliche Zeit ab, die Bella und Marc nach dessen Rückkehr nach Russland durchlebten. Sie zeigen eng umschlungene Liebespaare, die sich küssen, sich verliebt ansehen, als würde die Welt um sie herum nicht existieren. Und alle sind sie von jener magischen, traumhaften Stimmung geprägt, die für Chagall so typisch ist (Meyer 1961:238). Es sind schlicht und einfach Momente des unendlichen Glücks, die der Künstler hier für die Ewigkeit festgehalten hat. Diesen steht jene Gruppe von klassisch anmutenden Liebespaaren gegenüber, die Chagall nach der Hochzeit anfertigte, einer bescheidenen Zeremonie am 15. Juni 1915 im gemeinsamen Zuhause in Witebsk.
Kurz danach gingen Chagall und Bella dauerhaft nach Sankt Petersburg. Der Künstler konnte sich nicht länger dem Kriegsdienst entziehen, und eine Anstellung im dortigen kriegswirtschaftlichen Büro bewahrte den jungen Mann vor Einsätzen an der Front. Chagall malte weiter, und die nächste Werkphase wurde zu einem der grandiosen Höhepunkte seines Schaffens. Am Zenit dieser unvergleichlichen Kreativität schuf er dann 1916 vier weitere Liebespaare, die er handschriftlich seiner Braut Bella widmete (Meyer 1961:244).
Man könnte sich nun einer Bildbeschreibung hingeben, aber es kann kaum gelingen, die Ausstrahlung dieser Werke in schönere Worte zu fassen, als es Franz Meyer in seinem Catalogue raisonné gelungen ist (1961:244): „Durch Verzicht auf alles Beiwerk und durch eine zugleich einfachere und stärkere Konstruktion der Bewegungsabläufe erfuhr das Motiv der zwei einander zugeneigten Köpfe – vergleicht man sie mit der Reihe von 1915 – eine entschiedene Ausdruckssteigerung. In klassischer Schönheit thront der Profilkopf Bellas auf dem langen Stengel des Halses über dem hingebetteten des Jünglings, einer Pallas ähnlich in ihrer strahlenden Strenge und so den Erwählten beschützend. In einer anderen Fassung ist sie das zarte Mädchen, kosend geschmiegt an ihren Geliebten.“
Les Amoureux, jenes der vier Liebespaare von 1916, das sich in der Heidi Horten Collection befindet, unterscheidet sich in signifikanten Details von den anderen. Es ist das einzige Bild, in dem Bella und Marc ihre Gesichter einander direkt zuwenden und sich in einem wunderbar zärtlichen Moment auf den Mund küssen. Die Umgebung verschwindet in einem Meer aus bläulichen Wolken, alles ist auf die Liebenden fokussiert.
Der Hintergrund variiert im Vergleich mit den anderen drei Werken der Serie und erinnert an das Wolkenmeer, das Bella im Gemälde Die Erscheinung, 1917/18, umgibt. 1916 entstanden, datiert dieses Hauptwerk Chagalls aber auch in eine Zeit, die von Unruhen und Wirren geprägt war, das Jahr vor der Russischen Revolution, die mitten im Ersten Weltkrieg eine Verschärfung der politischen Lage herbeiführte. Aus diesem Blickwinkel heraus fasziniert die Ruhe, die das Liebespaar umgibt, es scheint den jungen Leuten gelungen zu sein, die grausamen Ereignisse für einen Moment zu verdrängen. Im selben Jahr wurde aber auch die gemeinsame Tochter der Eheleute geboren, und Chagall konnte mit einer lang ersehnten ersten Ausstellung Erfolge erzielen.
Die Kunstgeschichte kennt eine Vielzahl von Liebesgeschichten, die oftmals von der einflussreichen Rolle von Frauen als Musen der Künstler berichten. Doch selten offenbart sich eine Romanze, die an die Beziehung zwischen Marc Chagall und seiner ersten Frau Bella heranreicht. Immer wieder taucht Bella in seinen Arbeiten auf, einmal als Göttin, dann als Venus oder als eine über alles erhabene Gestalt. Bella, die große Liebe seiner Jugend, spielt bis zu Chagalls Gemälden der 1970er-Jahre eine große Rolle.
Marc Chagall, Couple au Vase de Fleurs, um 1955, Bildrecht, Wien 2023, Foto © Heidi Horten Collection
Marc Chagall, Les Saltimbanques, 1971, Bildrecht, Wien 2023, Foto © Heidi Horten Collection
Autor: Linus Klumpner
Quellen
Chagall, Bella
1983 First Encounter, New York
Kagan, Andrew
1989 Marc Chagall, New York
Kamenski, Alexander
1989 Chagall. Die russischen Jahre 1907–1922, Stuttgart: Ernst Klett Verlage
GmbH
Kloomok, Isaac
1951 Marc Chagall: His Life and Work, New York: Philosophical Library
Meyer, Franz
1961 Marc Chagall. Leben und Werk, Köln: Verlag M. DuMont Schauberg
Marc Chagall, L’Âne Vert, um 1936, Bildrecht, Wien 2023, Foto © Heidi Horten Collection