Pablo Picasso
Jeune Fille Espagnole devant la Mer, 1901, Succession Picasso/Bildrecht, Wien 2023
Foto © Heidi Horten Collection
„Ich suche nicht, ich finde.“
Picasso
Die beiden Ölgemälde Jeune Fille Espagnole devant la Mer, 1901, und Femme à la Robe Rouge, 1901, gehören zu Pablo Picassos Frühphase, in der der Künstler noch zwischen Spanien und Frankreich pendelt, bis er im April 1904 endgültig von Barcelona nach Paris übersiedelt. Er hat seinen Stil noch nicht gefunden und nimmt alle Anregungen der damaligen Avantgarde in seine Arbeit auf.
Das außergewöhnliche Zeichentalent Pablo Picassos, der 1881 im spanischen Málaga als Sohn von José Ruiz Blasco (1838–1913), einem Lehrer, Museumsdirektor und Maler, und seiner Frau María Picasso y López (1855–1938) geboren wurde, wird von seinem Vater früh erkannt und gefördert. Picasso erhält durch den Vater, der an der lokalen Kunstschule unterrichtet, bereits im Alter von sieben Jahren erste Anleitungen in Malerei. Er hat zwei Schwestern, Dolores, genannt Lola (1884–1958), und Concepción, genannt Conchita (1887–1895), die als Kind an Diphtherie stirbt. Im Jahr 1891 zieht die Familie nach La Coruña, die Hauptstadt der Provinz Galizien, wo Picasso die Schule für bildende Künste besucht. Daneben unterrichtet ihn der Vater weiterhin in Malerei. Im Jahr 1894 soll er angesichts des großen Talents seines Sohnes zu malen aufgehört und diesem Pinsel und Palette feierlich überreicht haben. Die Familie zieht 1895 nach Barcelona, wo Picassos Vater als Professor an die Hochschule für bildende Künste (La Llotja) berufen wurde. Im selben Jahr wird der 14-jährige Picasso dort in die Fortgeschrittenenklasse für klassische Kunst und Stillleben aufgenommen. Der Vater richtet ihm ein Jahr später in der Nähe der elterlichen Wohnung das erste Atelier ein, das er sich mit dem katalanischen Maler Manuel Pallarès i Grau (1876–1974) teilt. Sein erstes großes, noch akademisches Gemälde, Erstkommunion, wird in Barcelona ausgestellt. Im darauffolgenden Jahr wird Picasso zum weiterführenden Studium in die Fortgeschrittenenklasse der Königlichen Akademie von San Fernando in Madrid aufgenommen. Täglich geht er in den Prado, um alte Meister zu kopieren. Im Sommer 1898 erkrankt er an Scharlach und muss nach Barcelona zurückkehren. Bis zum Frühjahr 1899 erholt er sich im Bergdorf Horta de Ebro.
In Barcelona verkehrt Picasso im 1897 eröffneten Café Els Quatre Gats (Die vier Katzen), einem Treffpunkt für Künstler und Intellektuelle. Dort freundet er sich mit dem jungen katalanischen Maler Carlos Casagemas (1880–1901) an, mit dem er zeitweise ein Atelier in der Calle Riera de San Juan teilt, wie auch mit dem Poeten Jaime Sabartés (1881– 1968), der später sein Sekretär und ein lebenslanger Freund wird. Im Oktober 1900 reisen Picasso und Casagemas nach Paris, wo sie sich ein Atelier am Montmartre teilen. Im Dezember 1900 kehren beide zurück nach Barcelona. In Picassos Geburtsort Málaga feiern die Freunde Neujahr. Mitte Januar 1901 reist Picasso nach Madrid, wo er mit dem jungen Schriftsteller Francisco de Asís Soler das Kunstmagazin Arte Joven (Junge Kunst) gründet, während Casagemas nach Paris zurückkehrt, wo er im Februar 1901 Selbstmord begeht: Aus Liebeskummer erschießt er sich vor versammelter Freundesrunde. Für Picasso ist dies naturgemäß ein großer Schock. Er kehrt im Mai 1901 nach Paris zurück und wohnt beim Journalisten und Dichter Max Jacob (1876–1944). In Ambroise Vollards Galerie hat er seine erste Pariser Ausstellung, für die er 64 neue Gemälde, Pastelle und Aquarelle und mehrere Zeichnungen abliefert, die in Barcelona, Madrid und Paris entstanden sind.
Picasso und die Avantgarde
In diesem schicksalhaften Jahr 1901 entstehen die beiden kleinen Ölgemälde Jeune Fille Espagnole devant la Mer und Femme à la Robe Rouge. Man kann nur vermuten, dass sie in Picassos erster Ausstellung bei Vollard zu sehen waren.
Jeune Fille Espagnole devant la Mer malt Picasso vermutlich Anfang 1901 in Málaga oder Barcelona bzw. während er entlang der katalanischen Küste eine Reise unternimmt. Nach Richardson (1991:190) hat Picasso während seines zweiwöchigen Barcelonaaufenthaltes vor seiner Abfahrt nach Paris noch eine ansehnliche Anzahl von Werken gemalt, die französische Käufer anziehen sollten. Das Gemälde entspricht im Kolorit und in der Malweise mit den langen, lebhaften Pinselstrichen ganz Picassos Stil, den er Anfang 1901 in Spanien, noch vor seinem zweiten Besuch in Paris, entwickelt hat. Picasso war es in bemerkenswert kurzer Zeit gelungen, die visuellen Anregungen aus seinem ersten Parisaufenthalt zu einem eigenen kraftvollen Stil zu verarbeiten, was auch das vorliegende Gemälde deutlich belegt.
In dieser frühen Phase orientiert sich Picasso an allem, was damals Avantgarde ist. Er saugt die Anregungen geradezu auf, vom Jugendstil über El Greco, Impressionisten, Pointillisten, Nabis, Edvard Munch, Paul Gauguin, Pierre Puvis de Chavannes bis James Abbott McNeill Whistler, und auch weniger bekannte Künstler wie Eugène Carrière inspirieren ihn. Zu seiner ersten Ausstellung 1901 bei Vollard schrieb Félicien Fagus (in: Warncke 1993:77), dass man die Vorbilder klar erkenne in „Delacroix, Manet, Monet, van Gogh, Pissarro, Toulouse-Lautrec, Degas, Forain, vielleicht auch Rops“. Picasso interessieren starke koloristische Kontrastwirkungen elementarer Farben und Gegensätze zwischen flächigen und aufgelösten Formen.
Beim Anblick von Jeune Fille Espagnole devant la Mer spürt man unwillkürlich, dass Picasso noch unter dem Schock der tragischen Ereignisse steht. Die Idylle am Meer wirkt trügerisch und erinnert an Munchs tiefgründige Landschaften. Die junge Frau in ihrem weißen Kleid sieht den Betrachter mit ihren blauen, rot umrandeten Augen direkt an. Ihr Blick wirkt wie der einer Wahnsinnigen und kontrastiert die Unschuld, die das weiße Kleid auf den ersten Blick vermittelt. Die Frau im weißen Kleid vor dem blauen Meer wird zu einer Vision des Grauens vor einer Postkartenlandschaft. Picasso hat die Komposition auf wenige Farben beschränkt: das weiße Kleid, der gelbe Sandstrand, das blaue Meer mit den weißen Segeln der Boote und der weiße Himmel, der den oberen Abschluss bildet. Rechts vorn sind Schwertlilien zu erkennen, und mit der roten Blüte in ihrem aufgesteckten Haar und dem rot gestreiften Halstuch setzt Picasso farbliche Akzente.
„Wenn es etwas zu stehlen gibt, ich stehle es.“
Picasso
Femme à la Robe Rouge, 1901, Succession Picasso/Bildrecht, Wien 2023
Foto: Heidi Horten Collection
„Ich bemühe mich immer darum, die Natur nicht aus den Augen zu verlieren. Mir geht es um Ähnlichkeit, um eine tiefere Ähnlichkeit, die realer ist als die Realität und so das Surreale erreicht.“
Picasso
Jeune Fille Espagnole devant la Mer ist noch mit „P. R. Picasso“ (Pablo Ruiz Picasso) signiert. Nach Pierre Daix (1966:134) ist die Signatur typisch für diese Zeit und entspricht jenen von La Femme au Chien und Femme Espag- nole aus derselben Phase. Bis 1901 signiert Picasso mit „Pablo Ruiz y Picasso“, ab 1901 hingegen verwendet er nur noch „Picasso“. Im Akt befinden sich die mit der Hand geschriebenen Echtheitsbestätigungen von Pierre Daix (vom 24. Februar 1995) und Picassos Tochter Maya Widmaier-Picasso (vom 8. Juli 1995).
Femme à la Robe Rouge aus demselben Jahr zeigt eine Frau im roten Kleid frontal ins Bild gesetzt, die Hände um den Bauch verschränkt, den Blick dem Betrachter entgegengerichtet. Sie sitzt vor einem Gemälde, vielleicht in Picassos Atelier. Links im Hintergrund ist deutlich ein gerahmtes Bild zu erkennen. Ihre Hochsteckfrisur mit dem auffälligen Knoten und der ins Haar gesteckten großen Blume, ihre dunklen Haare ebenso wie ihr Gesicht und die kleinwüchsige Statur erinnern an Picassos Ölgemälde Die Tänzerin La Nana, das dieser 1901 in Paris gemalt hat und das sich heute im Museu Picasso in Barcelona befindet (abgebildet in: Warncke 1993,I:65). In Antonina Vallentins Buch Pablo Picasso (1958:61) wird das Gemälde noch als Die Zwergin tituliert. Wahrscheinlich handelt es sich daher bei der in Femme à la Robe Rouge abgebildeten Frau um die Tänzerin – zu ähnlich sind die Details.
Das Jahr 1901 ist für Picasso ein äußerst produktives. In seiner Themenwahl ist er deutlich von Henri de Toulouse-Lautrec inspiriert, von dem er Plakate erwirbt, die er in seinem Atelier aufhängt. Picasso malt Frauen mit hohen Frisuren und mit Federn oder Blumen beladenen Hüten, die Damen der Halbwelt mit geschminkten Gesichtern. In Femme à la Robe Rouge leuchten der mit Lippenstift bemalte Mund und die ins Haar gesteckte Blume als rote Farbkleckse, die das Rot des Kleides aufnehmen. Den Künstler interessieren kräftige Farben und Kontraste. Die Farben setzt er wie in Die Tänzerin La Nana in abgehackten Pinselstrichen oder Tupfen, die an den Pointillismus erinnern. Als Sabartés ihn im Herbst in Paris besucht, erschrickt er ob der „heftigen Farbgebung“ (Vallentin 1958:62). Picasso antwortet dem Freund la- chend, „das, was mich rettet, ist die Tatsache, daß ich es jeden Tag schlimmer mache“ (in: Vallentin 1958:62). Picasso malt ein bis zwei Bilder pro Tag oder Nacht. Die pastos aufgetragenen, ungestümen Farben, die wild gesetzten Pinselstriche, die an Van Goghs Malweise erinnern, erzeugen eine neue Betrachtungsweise und führen durch die Hinwendung zur Monochromie zu einer radikalen Umstellung in seinem Werk. Ergebnis dieser Wende wird die Blaue Periode sein.
Picassos unverkennbarer Stil: Zwischen Figuration und Dissoziation
Mit Femme à la Couronne de Fleurs aus dem Jahr 1939 zeigt Picasso seinen unverkennbaren Stil, den er zwei Jahre zuvor, 1937, mit Guernica erstmals erreicht hat. Guernica ist die Reaktion des Künstlers auf die Zerstörung der baskischen Stadt Guernica durch einen deutsch-italienischen Luftangriff während des Spanischen Bürgerkrieges (1936– 1939). Am 12. Juli 1937 wird das monumentale Gemälde auf der Weltausstellung in Paris erstmals präsentiert. Heute befindet es sich im Museo Reina Sofía in Madrid.
Für Picassos Stil sind zwei gegensätzliche Prinzipien von Bedeutung: „Figuration“ und „Dissoziation“ (Warncke 1993,II:403), die sein Werk gleichermaßen durchdringen. Die Figuration gibt den subjektiven Blick des Betrachters wieder, der den Gesetzen der Perspektive folgt. Die Dissoziation als Widerpart klassischer Bildauffassung, die er schon in den Werken von 1916 bis 1924 angewendet hat, äußert sich z. B. durch Mehransichtigkeit oder gleichzeitige Ansicht von verdeckten Bereichen. Die Synthese aus dem subjektiven Blickpunkt des Betrachters und dem Dissoziativen ist die Grundlage des „Stils Picasso“. Wichtige Impulse liefern ihm Kinderzeichnungen. Kinder geben die Welt nicht in der gewohnten Weise, basierend auf der alltäglichen Seherfahrung, wieder, sondern versuchen, besondere Merkmale zu erfassen und auch mehrere Ansichten miteinander zu verbinden. Es geht ihnen aber um die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit und nicht um Kunst.
Picasso malt Femme à la Couronne de Fleurs (Frau mit Blumenkrone) am 18. Juni 1939. Das Datum gräbt er im linken oberen Teil der Komposition mit der Rückseite seines Pinsels in die noch feuchte, pastose Farbschicht ein. Links unten malt er seine Signatur „Picasso“. Das Gemälde ist ein Porträt seiner Geliebten Marie-Thérèse Walter (1909–1977).
Picasso war ihr am 8. Januar 1927 in den Galeries Lafayette erstmals begegnet. Vom ersten Moment an ist er von ihrer Schönheit und ihrem sanften Gemüt hingerissen. Walter wird sein Modell und bald darauf seine heimliche Geliebte. Picasso ist noch mit seiner ersten Frau, der russischen Tänzerin Olga Stepanowna Chochlowa (1891–1955), verheiratet. Die beiden hatten sich während Picassos Zusammenarbeit mit den Ballets Russes unter der Leitung von Sergej Djagilew (1872–1929) kennengelernt und 1918 geheiratet. Im Jahr 1923 wurde der Sohn Paulo geboren. Erst kurz vor der Geburt von Walters und Picassos Tochter Maya, eigentlich María de la Concepción (geboren am 5. Oktober 1935), später verheiratete Widmaier, kommt es zur Trennung, aber nicht zur Scheidung von Chochlowa.
Walter und Picasso führen eine Beziehung, bis der Künstler 1937 mit der Fotografin Dora Maar, eigentlich Henriette Theodora Markowitch (1907–1997) eine weitere Liaison eingeht. Maar ist mehrere Jahre an Picassos Seite, bis die Beziehung 1943 zerbricht und Françoise Gilot (geboren 1921) bis 1953 seine Geliebte wird. Sie ist auch die Mutter der gemeinsamen Kinder Claude (geboren 1947) und Paloma (geboren 1949). In ihrem Buch Leben mit Picasso aus dem Jahr 1964 schreibt sie, dass Picasso immer den Donnerstag und den Sonntag bei Marie-Thérèse Walter verbrachte, da Maya an beiden Tagen nicht zur Schule gehen musste.
Femme à la Couronne de Fleurs, 1939, Succession Picasso/Bildrecht, Wien 2023
Foto: Heidi Horten Collection
Picasso kann sich zwischen Walter und Maar nicht entscheiden. Er genießt die starke Rivalität zwischen den beiden sehr unterschiedlichen Frauen, die um seine Gunst kämpfen und sein Ego und seine Männlichkeit nur bestätigen. Picasso erzählte Gilot (1967:199) später: „Ich hatte sie beide gern, aus verschiedenen Gründen: Marie-Thérèse, weil sie liebreizend und sanft war und alles tat, was ich wollte, und Dora, weil sie intelligent war. Ich entschied mich dafür, mich nicht zu entscheiden. Ich war zufrieden mit den Dingen, wie sie waren, deshalb sagte ich, sie sollten das unter sich ausmachen. Daraus wurde dann ein Ringkampf. Das ist eine meiner erlesensten Erinnerungen.“ Die Unterschiedlichkeit der beiden Frauentypen berücksichtigt Picasso durchaus auch in den Porträts, die er von beiden malt. Die blonde, sanftmütige Walter stellt er in der Regel in hellen, fröhlichen Farben, so wie im vorliegenden Bildnis, dar, während er für die Porträts der dunkelhaarigen, temperamentvollen Maar kräftigere Farben verwendet. Der Verleger und Picasso-Kenner Christian Zervos beschrieb Picasso als „den stolzesten Mann unserer Zeit“ (in: Vallentin 1958:79), und der Schriftsteller Max Jacob sagte über seinen Freund Picasso, dieser habe „den Ruhm eines Don Juan dem eines Künstlers vorgezogen“ (Olivier 1959:78).
Marie-Thérèse Walter, die sich 1977 in Juan-les-Pins das Leben nimmt, ist in Picassos Werk durch Hunderte von Zeichnungen und zig Porträts sehr präsent. In ihrem Porträt, das in der Umrissform klar ihr Profil zeigt, sind Momente der Profildarstellung zu sehen: zwei Augen, zwei Nasenlöcher und zwei Brüste. Die Verbindung von Profil- und Frontaldarstellung ist das herausragende Merkmal, das seit den 1920er-Jahren in Picassos Werk zu beobachten ist.
Ihre Bekleidung stellt mit dem weiß-rot karierten Muster des Stoffes eine autonome Fläche aus pastos gesetzter Farbe dar. Die Figur ist reduziert in den Details und aus klaren Farbflächen vor einem gelben Hintergrund mit Sternchenmuster platziert. So nahe Picasso dem Ungegenständlichen oder Abstrakten kommt, so wenig ist eine gänzlich ungegenständliche, rein abstrakte Malerei seine Zielsetzung.
Bereits am 6. Februar 1937, zwei Jahre vor Femme à la Couronne de Fleurs, hat Picasso die Geliebte in Portrait de Marie Thérèse Walter à la Guirlande (abgebildet in Warncke 1993,II:406) mit einem Blumenkranz im Haar dargestellt. Das Porträt ist deutlich naturalistischer umgesetzt als Femme à la Couronne de Fleurs. In Letzterem hat Picasso Gesicht und Gewand formal noch stärker abstrahiert. Aus beiden Gemälden leuchten aber ihre blauen Augen. Wie schon in Portrait de Marie-Thérèse Walter vom 6. Januar 1937 (abgebildet in Warncke 1993,II:407; Zervos 1963,VIII:324) hat Picasso auch in Femme à la Couronne de Fleurs ihre blonden Haare mit Grüntönen dargestellt.
Femme à la Couronne de Fleurs hing über zwei Jahrzehnte (von 1973 bis 1997) im Büro des Schweizer Galeristen und Kunstsammlers Ernst Beyeler (1921–2010) und war in mehreren Ausstellungen, zuletzt 2007 in Die andere Sammlung. Hommage an Ernst und Hildy Beyeler in der Galerie Beyeler in Basel, zu sehen.
Die Werkserie Plante de Tomate
Pablo Picasso malt das Stillleben mit Tomatenpflanze laut rückseitiger Datierung am 4. August 1944 in seinem Atelier in Paris – während der vierjährigen deutschen Besatzungszeit.
Das Gemälde gehört zu einer Reihe von Stillleben mit Tomatenpflanzen auf dem Fensterbrett, die im Sommer 1944 (vom 27. Juli bis 12. August), kurz vor der Befreiung von Paris, entstanden sind. Die gesamte Werkgruppe umfasst laut Zervos (1963,14:Nrn.13,14) vier blaue Kreidezeichnungen, zwei geometrische Versionen von Tomatenpflanzen (Zervos 1963,14:Nrn.18,20), die Picasso am 31. Juli 1944 gemalt hat, und weitere neun Ölgemälde, alle im gleichen Format, aber abwechselnd im Hoch- und im Querformat (Zervos 1963,14:Nrn.21–29), die zwischen 3. und 12. August 1944 entstanden sind. Zu letzteren gehört auch die vorliegende Fassung (Zervos 1963,14:Nr.28).
Der mit Picasso befreundete Fotograf Brassaï (eigentlich Gyula Halász, 1899–1984) notierte in seinen Erinnerungen an Picasso bereits am 16. Juni 1944, dass im Atelier des Malers ein neues Motiv Einzug gehalten habe, zwei Töpfe mit Tomatenpflanzen, an denen schon einige Früchte zu reifen begonnen hätten, und schrieb weiter: „The studio is already filled with drawings and rough gouaches depicting these plants“ (Brassaï 1999:196)
Picasso hat die Tomatenpflanzen wahrscheinlich von Marie-Thérèse Walter geschenkt bekommen, die wie viele Franzosen in den Kriegsjahren auf ihrem Fensterbrett Tomaten züchtet. Die von Brassaï erwähnten Gouachen sind zwar bislang durch die Literatur nicht belegbar, sein Eintrag legt jedoch nahe, dass sich Picasso bereits vor seinem kurzzeitigen Umzug in die Wohnung von Marie-Thérèse Walter und der gemeinsamen Tochter Maya während der Pariser Straßenkämpfe im August 1944 mit dem Motiv der Tomatenpflanze auf dem Fensterbrett beschäftigt hat. In Walters Wohnung am Boulevard Henri-IV am östlichen Ende der Île Saint-Louis wird er zweifelsohne erneut von den an ihrem Fenster reifenden Tomaten inspiriert. Nach der Befreiung von Paris zieht Picasso am 28. August 1944 wieder zurück in sein Atelier in der Rue des Grands-Augustins.
In der Fassung vom 4. August 1944 (Zervos 1963,14:Nr.28) sowie in der ersten größeren Version dieses Themas in Öl vom 3. August 1944 (Zervos 1963,14:Nr.23) – beide sind Querformate – wird die Tomatenpflanze von der grauen, kubistisch aufgelösten Steinarchitektur des geöffneten Großstadtfensters dominiert. Die organischen Arabesken der Tomatenpflanze mit ihren heranreifenden, teils bereits roten Früchten und den saftig grünen Blättern vor dem blauen Sommerhimmel bilden kompositorisch wie malerisch einen klaren Kontrast zu den grauen architektonischen Elementen. Während diese in der ersten Fassung vom 3. August eine größere Rolle spielen, sind sie in der vorliegenden Fassung auf das Gesims des Großstadtfensters reduziert. Der Fokus ist hier auf die Tomatenpflanze gelegt, die mit ihren leuchtend roten Früchten die Tristesse der okkupierten, darniederliegenden Metropole in den Schatten stellt. „Picasso could not have helped admiring their readiness to grow toward the freely painted sunlight and sky, which he expressed in the movement of the vines and the shape of the leaves as well as in the fruits themselves“ (Sutherland Boggs 1992:286).
Plante de Tomate, 1944, Succession Picasso/Bildrecht, Wien 2023
Foto © Heidi Horten Collection
Brassaï, Picassos Atelier, 1944
„Kunst ist weniger dazu da, Wohnungen zu schmücken, sondern sie ist eine Waffe im politischen Streit.“
Picasso
Aufstellung von Picassos Versionen der Plante de Tomate nach Zervos, 1963
Am 3., 6., 7. und 9. August 1944 entstehen weitere, teils unvollendete Versionen, in denen sich Picasso stärker mit den gedrehten Windungen der Pflanze vor dem geschlossenen Fenster beschäftigt (Zervos 1963,14:Nrn.29,24,21,27). Am 10. August malt er eine vollendete Fassung von Plant de Tomate (Zervos 1963,14:Nr. 6), in der die Tomatenpflanze vor dem halb geöffneten Fenster steht, und am 12. August be- schließt er die Serie mit zwei weiteren Gemälden.
Brassaïs Foto von Picassos Atelier im Jahr 1944 zeigt die trostlose Stimmung, die während der Besatzungszeit drückend auf Paris gelegen war und sich auch in Picassos Atelier ausgebreitet hatte. Der abgemagerte Hund, der auf einem kleinen Teppich liegt, erinnert an die Versorgungsnot, die in der französischen Metropole geherrscht hatte, und der Blick aus dem geöffneten Atelierfenster zeigt als Gegenüber nur bröckelnde Fassaden, die besserer Zeiten harren.
Mit der Notlage der Pariser Bevölkerung während der Besetzung durch das Naziregime hat sich Picasso schon 1941 in seinem Stück Le Désir Attrapé par la Queue (Wie man Wünsche am Schwanz packt) beschäftigt (Warncke 1993, II:453–454). In dieser Farce in sechs Akten, die Albert Camus am 14. Mai 1944 in Michel Leiris’ Pariser Wohnung inszeniert, lässt Picasso die Figuren Plumpfuß (gelesen von Michel Leiris), Torte, Zwiebel, Klümpchen (gespielt von Jean-Paul Sartre), fette und magere Angst, zwei Wauwaus, Schweigen und Gardine versuchen, elementare Triebe wie Liebe und Hunger zu stillen und der Kälte zu entrinnen.
Picasso will „mit seiner Malerei immer wie ein Revolutionär kämpfen“ (Warncke 1993,II:459) und schafft als politisch denkender Künstler während sowie nach dem Krieg eine Reihe von Stillleben wie Pichet, Bougeoir et Casserole Émaillé (Krug, Kerze und Kasserolle) vom 16. Februar 1945 (Zervos 1963,14:Nr. 71), in „deren Motivik [er indirekt] auf die Entbehrungen und Ängste der Besatzungszeit anspielt“ (Warncke 1993,II:459). „Einfache Haushaltsgegenstände stehen für das in der Besatzungszeit erschwerte und bedrängte Leben“ (Warncke 1993,II:461). Durch seine bewährten Stilmittel wie mehransichtige perspektivische Blickpositionen eines Gegenstandes ohne klare Konturen wird „das scheinbar Eindeutige fragwürdig und unsicher, zugleich aber allgemeingültiger“ (Warncke 1993,II:459). Mit Plante de Tomate gelingt Picasso in den „darkest days of German occupation“ (Christie’s 2006:24) eine bildliche Metapher des inneren Widerstands, in der die im grauen Paris heranreifenden roten Früchte zum unübersehbaren Symbol aufkeimender Hoffnung auf eine bessere Zukunft werden. Im selben Jahr, in dem die Serie der Tomatenpflanzen entsteht, tritt der Künstler in die Kommunistische Partei Frankreichs ein, deren Mitglied er bis zu seinem Lebensende bleiben wird.
Picasso - ein Klassiker der Moderne
„Als ich noch ein Kind war, sagte meine Mutter zu mir: ‚Wenn du Soldat wirst, wirst du General werden. Wenn du ein Mönch wirst, wirst du schließlich Papst werden.‘ Stattdessen habe ich es als Maler versucht und bin Picasso geworden.“
Picasso
Picasso zieht mit Françoise Gilot und dem gemeinsamen Sohn Claude nach Südfrankreich. Im Jahr 1948 beziehen sie die Villa La Galloise in Vallauris. In der Folge entstehen zahlreiche Keramiken. Durch die Zusammenarbeit mit der Töpferei Madoura in Vallauris lernt der Künstler 1952 die Keramikverkäuferin Jacqueline Roque (1927–1986) kennen. Sie wird seine neue Lebensgefährtin und bis zu seinem Lebensende an seiner Seite bleiben. Im Juni 1955 erwirbt er die Villa La Californie mit einem weitläufigen Grundstück, das an einem Hang oberhalb von Cannes mit Aussicht auf Golfe-Juan und das Cap d’Antibes liegt. Im selben Jahr (1955) stirbt seine erste Frau Olga Chochlowa in Cannes. Um den vielen Neugierigen zu entkommen, die seine Villa La Californie belagern, kauft Picasso im September 1958 das aus dem 14. Jahrhundert stammende Schloss Vauvenargues in der Nähe von Aix-en-Provence am Fuß des Mont Sainte-Victoire, den Cézanne in unzähligen Gemälden festgehalten hat. Im März 1961 heiraten Picasso und Jacqueline Roque in Vallauris, im Juni beziehen sie die neu erworbene Villa Notre-Dame-de- Vie nahe dem Dorf Mougins in den Bergen oberhalb von Cannes. Diese wird seine letzte Wohn- und Arbeitsstätte.
Von seiner zweiten Ehefrau Jacqueline Roque malt Picasso Hunderte von Porträts. Wahrscheinlich ist sie auch für das große Gemälde Femme Assise de Profil dans un Fauteuil Bleu, das Picasso im Jahr vor ihrer Hochzeit gemalt hat, Modell gesessen. Das Gemälde, das in der Galerie Louise Leiris in Paris und in der Galleria Toninelli in Mailand zu sehen war, zeigt Picassos ausgereiften Stil. Picasso ist längst Picasso und damit ein Klassiker der Moderne. Der Künstler befindet sich auf dem Zenit seiner Karriere und ist international anerkannt. Er begehrt als Künstler jedoch weiter auf und arbeitet mit ungebrochener Vitalität.
Malen ist für Picasso „ein dramatisches Geschehen, in dem die Realität auseinandergenommen wird. […] Die Wirklichkeit muss in jedem Sinne des Wortes zerlegt werden. […] Ich möchte den Geist in eine ihm ungewohnte Richtung lenken, ihn aufwecken. Ich möchte dem Betrachter etwas enthüllen, was er ohne mich nicht entdeckt hätte“ (Picasso in Gilot 1967:47). Seine Arbeitsweise besteht darin, zuerst mit instinktiven Farb- und Liniensetzungen zu beginnen, die er in der Folge nicht „harmonisiert“, sondern „zerstört“, um „noch mehr Unruhe zu stiften“ und immer „Kühneres“ zu evozieren.
Laut Françoise Gilots (1967:151) Erinnerungen war Picasso ein Morgenmuffel, der sich bis zum Mittagessen unrund fühlte: „Nach dem Essen war sein Weltschmerz ganz und gar vergessen: Von zwei Uhr an dachte er nur noch ans Malen. Und bis auf eine kurze Pause für das Abendbrot gab es dann bis zwei Uhr früh nichts anderes mehr für ihn. Er war um diese Zeit frisch wie eine Rose.“ Picasso hat immer halb trockene, unvollendete Bilder um sich, an denen er weiterarbeiten kann, beim Malen benutzt er keine Palette, sondern presst die Farbe aus der Tube auf Zeitungspapier. „Er stand drei bis vier Stunden ununterbrochen vor der Leinwand. Er machte fast keine überflüssigen Bewegungen“ (Gilot 1967:104–106). Gilots Frage, ob es ihn nicht ermüde, so intensiv zu malen, verneint Picasso (in: Gilot 1967:106), und er meint: „Deshalb leben die Maler ja so lange. Während ich male, lasse ich meinen Körper draußen vor der Tür, wie die Moslems ihre Schuhe vor der Moschee.“
Buste d’Homme, 1969, Succession Picasso/Bildrecht, Wien 2023
Foto: Heidi Horten Collection
Buste d’Homme malt Picasso am 11. Juni 1969. Im darauffolgenden Jahr wird das Brustbild in der Ausstellung Pablo Picasso 1969–1970 von Mai bis Oktober in der Grande Chapelle im Palais des Papes von Avignon anlässlich des XXIV. Festival d’Avignon gezeigt. Die Ausstellung im Papstpalast, die 167 Gemälde und 45 Zeichnungen von Picasso aus dem Jahr 1969 umfasst, war von Yvonne Zervos (1905–1970) vorbereitet worden. Diese stirbt am 20. Januar des Jahres noch vor der Eröffnung der Ausstellung. Ihr Mann, der Kunstsammler, Kunstkritiker und Verleger der Cahiers d’Art (1926–1960) Christian Zervos (1889–1970), der den Katalog bearbeitet hatte, erlebt zwar noch die Ausstellungseröffnung, verstirbt aber im selben Jahr im September in Paris. Picasso hat mit dem Tod der beiden wichtige Wegbegleiter verloren.
Die im Papstpalast ausgestellten Arbeiten zeigen Picassos Beschäftigung mit den alten Meistern der Kunstgeschichte. Sein ganzes Leben lang verehrt der Künstler den niederländischen Maler Rembrandt (Harmenszoon van Rijn; 1606–1669) und den spanischen Maler Diego (Rodríguez de Silva y) Velázquez (1599–1660), zu dessen Meisterwerk Las Meninas (Die Hoffräulein) im Museo del Prado in Madrid Picasso bereits 1957 über fünfzig Paraphrasen geschaffen hat. Die Auseinandersetzung mit den alten Meistern bedeutet für Picasso, Vorbilder zu finden und Anregungen zu verarbeiten.
Buste d’Homme ist das Porträt eines spanischen Höflings des 17. Jahrhunderts. Er trägt einen Brustharnisch mit der eisernen Faust. Man sieht die Knöpfe des darunter getragenen Gewandes. Nicht ohne eine Portion Humor malt Picasso den Edelmann mit seinen weit aufgerissenen Augen, der Lockenfrisur, die sein Gesicht umrahmt, und dem aufgezwirbelten Moustache, der geradezu nach Abenteuern lechzt. Er ist ein Mann von Format und Edelmut. Es liegt auch eine gewisse Nostalgie in der Luft, eine Sehnsucht nach Picassos eigener Manneskraft in Jugendjahren.
Vier Jahre später, am 8. April 1973, stirbt Picasso mit 91 Jahren in seiner Villa Notre-Dame-de-Vie in Mougins. Er wird im Park seines Schlosses Vauvenargues bei Aix-en- Provence beigesetzt. Seine persönliche Kunstsammlung mit Werken von Corot, Courbet, Degas, Cézanne, Renoir, Rousseau, Matisse, Derain, Braque, Gris und Miró wird auf seinen Wunsch dem französischen Staat geschenkt. Sein Sohn Claude wird den Nachlass verwalten. Im Todesjahr des Künstlers findet von Mai bis September im Papstpalast in Avignon die erste Gedenkausstellung zu Picasso statt. Gezeigt werden 201 Gemälde, die der Künstler noch selbst ausgesucht hat. 13 Jahre nach Picassos Tod, 1986, wird sich seine Witwe Jacqueline Picasso, geborene Roque, kurz nach der Eröffnung einer von ihr organisierten Picasso-Ausstellung das Leben nehmen.
Autorin: Verena Traeger
Quellen
Brassaï
1964 Conversations avec Picasso, Paris
1999 Conversations with Picasso, Chicago
Christie’s
1999 [Los] 531, in: Twentieth Century Art (Evening Sale), 9. November
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2006 [Los] 7, in: Impressionist and Modern Art. Evening Sale, 8. November
2006, Auktionskatalog, Christie’s New York, S. 24–27
Daix, Pierre
1966 Picasso 1900–1906. Catalogue raisonné de l’œuvre peint, Neuchâtel
Dütting, Bernd
1997 Brief vom 26. Juni (maschinschriftlich) von Bernd Dütting, Galerie Beyeler, Basel (Original im Akt)
Gilot, Françoise
1967 Leben mit Picasso, Frankfurt a. M.: Fischer
Lecaldano, Paolo
1971 Picasso. Blue and Rose Periods, London
Olivier, Fernande
1959 Neun Jahre mit Picasso. Erinnerungen aus den Jahren 1905–1913, München: Paul List Verlag
Museum of Barcelona
1994 Picasso: Landscapes 1890–1912, Ausstellungskatalog, Picasso Museum of Barcelona, Barcelona
Palau y Fabre, Josef
1981 Picasso. The Early Years, 1881–1907, New York
Richardson, John
1991 A Life of Picasso, Bd. I: 1881–1906, London
Sotheby’s
2012 [Los] 29, in: Impressionist & Modern Art Evening Sale, 5. November
2012, Auktionskatalog, Sotheby’s New York, S. 118–123
2017 [Los] 8, in: Impressionist & Modern Art Evening Sale, 1. März 2017, Auktionskatalog, Sotheby’s London, S. 42–53
Sutherland Boggs, Jean (Hg.)
1992 Picasso and Things. The Still Lifes of Picasso, Ausstellungskatalog, Cleveland Museum of Art, The Philadelphia Museum of Art, Grand Palais, Paris Tate Gallery
1960 Picasso, Ausstellungskatalog, The Tate Gallery, London, abgebildet: Nr. 17 Vallentin, Antonina
1958 Pablo Picasso, Köln, Berlin: Kiepenheuer & Witsch
Warncke, Carsten-Peter
1993 Pablo Picasso. 1881–1973, Bd. I: Werke 1890–1936, Bd. II: Werke
1937–1973, hg. von Ingo F. Walther, Köln: Benedikt Taschen Verlag
Zervos, Christian
1963 Pablo Picasso, Werkkatalog, Bd. 14, Paris: Éditions „Cahiers d’Art“
Femme Assise de Profil dans un Fauteuil Bleu, 1960, Succession Picasso/Bildrecht, Wien 2023
Foto © Heidi Horten Collection