Heidi Goëss-Horten © Ouriel Morgensztern
“I am proud, with my collection and the construction of the museum, to have created something lasting, which future generations will also be able to experience when they visit my museum and take joy in the art that has given me such joy for so long.”
Heidi Goëss-Horten
Édouard Vuillard
v.l.n.r.: Ker-Xavier Roussel, Édouard Vuillard, Romain Coolus und Félix Vallotton im Jahr 1899, Foto: Louis-Alfred Natanson
„To say that a thing is beautiful is simply an act of faith, not a measurement on some kind of scale.“
Édouard Vuillard
Der französische Maler und Grafiker Édouard Vuillard wird am 11. November 1868 in Cuiseaux in Burgund geboren.
Er wächst in kleinbürgerlichen Verhältnissen auf. Ab 1877 lebt die Familie in Paris. Der Vater stirbt bereits 1883. Daraufhin eröffnet die Mutter ein kleines Schneidergeschäft, um ihre drei Kinder ernähren zu können. Die intime Häuslichkeit der sorgenden Mutter, mit der er bis zu ihrem Tod 1928 zusammen bleibt, bestimmt auch seine spätere Motivwahl als Künstler.
Vuillard und Ker-Xavier Roussel und die Nabis
Auf dem Lycée Condorcet, das Vuillard ab 1884 besucht, ist der spätere Maler Ker-Xavier Roussel (1866–1944) sein Klassenkamerad. Ihre Freundschaft wird durch die Heirat Roussels mit Vuillards Schwester Marie 1893 noch enger. Gemeinsam studieren Vuillard und Roussel ab 1886 an der Académie des Beaux –Arts in Paris, an der Jean-Léon Gérôme einer seiner Lehrer wird.
Enttäuscht vom Akademismus wechseln sie zwei Jahre später an die Académie Julian, wo sie Pierre Bonnard, Maurice Denis, die beide in der Heidi Horten Collection vertreten sind, Félix Valloton, Paul Ranson und Paul Sérusier begegnen und sich um 1890 der Künstlergruppe Les Nabis (hebräisch für „Propheten“ bzw. „Erleuchtete“) anschließen, mit der Vuillard bis 1906 ausstellt. Die Nabis experimentieren, angeregt durch japanische Farbholzschnitte (Ukiyo-e), die Gemälde Paul Gauguins und den Pointillismus mit neuen Interpretationen des Bildraums und gelangen dabei oft zu dekorativer Flächigkeit und einem ästhetisierenden Symbolismus. Die Farben entsprechen nicht mehr der Natur, sondern der Vorstellung des Künstlers.
Vuillard der Postimpressionist
Rasch entwickelt Vuillard, der heute als einer der Hauptmeister des Postimpressionismus gilt, seinen eigenen, weniger dekorativen und literarischen Malstil. In der Zwischenkriegszeit zeigen vor allem seine vielen Porträts von Pariser Großbürgern und seine Interieurs einen stärkeren Hang zum Realismus. Der leidenschaftliche Amateurfotograf setzt auch das neue Medium als Vorlage seiner Malerei ein.
Zu seinem umfangreichen grafischen Werk gehören vor allem Lithografien, in denen Vuillard das Pariser Leben seiner Zeit verewigt. In der Zeitschrift La Revue blanche erscheinen einige seiner besten Blätter. Ab 1903 stellt er regelmäßig in der Galerie Bernheim-Jeune aus sowie sporadisch im Salon des Indépendants und im Salon d'Automne. Die Sommermonate verbringt er meist in der Bretagne oder in der Normandie. Gemeinsam mit Ker-Xavier Roussel und Pierre Bonnard bereist Vuillard 1899 Italien. Sie besuchen den Comer See, Venedig und Mailand. Paul Ranson gründet 1908 die Académie Ranson in Paris, an der Vuillard neben Roussel, Sérusier, Vallotton und Aristide Maillol unterrichtet, der in der Heidi Horten Collection mit einer kleinen Skulptur vertreten ist.
Vuillards Gemälde Annette au Piano
Ab 1890 entstehen Vuillards beste Arbeiten darunter Porträts und Interieur-Szenen, die in Form und Farbe reduziert, das alltägliche Leben wiedergeben. Vuillards familiäre Idyllen sind wahre Meisterwerke. Zu diesen gehört auch das Interieur-Bild Annette au Piano (Annette am Piano), das Vuillard um 1910 mit lockerem Pinselstrich skizzenhaft wie einen „Schnappschuss“ malt und das sich heute in der Heidi Horten Collection befindet. Es war 2021 eine der letzten Kunstankäufe der Sammlerin Heidi Horten, die im Juni 2022 verstorben ist.
Das Gemälde zeigt links im Bild Madame Vuillard in einer weißen Bluse in einem Fauteuil sitzend, den Blick auf Jacques Roussel gerichtet, der ganz rechts im Bild angeschnitten und in weißer Bluse mit schwarzem Pullunder bekleidet ihren Blick erwidert. Wie sie lauscht er dem Klavierspiel seiner älteren Schwester Annette Roussel. Diese ist zentral ins Bild gesetzt und sitzt in einem roten Kleid am Klavier. Das Wandklavier mit den zwei goldenen Kerzenleuchtern ist in hellbraun gemalt. Die Komposition ist mit wenigen klaren Farbflächen gebaut. Die Leinwand bleibt zwar zu einem Drittel unbemalt, aber die Szene ist komplett erfasst und mit Farbe meisterhaft durchgestaltet.
Édouard Vuillard, Annette au Piano (Annette am Piano), 1910
Öl auf Leinwand, 59,1 x 81 cm, Heidi Horten Collection
Édouard Vuillard Child Playing: Annette Roussel in Front of a Wooden Chair, um 1900
Art Institute of Chicago
Édouard Vuillard Woman Feeding a child (Annette Roussel Daughter of Ker Xavier Roussel), 1901, Musée de l'Annonciade, Saint-Tropez
Édouard Vuillard Annette et Jacques Roussel faisant leur devoir (Annette und Jacques machen ihre Hausaufgaben), 1906, Kunsthaus Zürich
Annette (geboren 1898) und Jacques Roussel (geboren 1901) sind die Kinder von Vuillards Schwager Ker-Xavier Roussel und seiner Schwester Marie. Die Roussels haben 1899 Paris verlassen und sind nach L’Étang-la-Ville im Großraum von Paris gezogen. Der Kontakt zu ihrem Onkel und zur Großmutter bleibt aber ein enger. Für Vuillard sind die beiden Kinder, die oft zu Besuch sind, wiederkehrende Modelle. Vor allem Annette hat er vom Kleinkindalter bis zur erwachsenen Dame immer wieder mit Ölfarbe, Pastell oder als Foto ins Bild gesetzt.
Das Art Institute of Chicago und das Musée de l'Annonciade in Saint-Tropez besitzen frühe Interieurs um 1900, die Annette Roussel als Kleinkind zeigen, wie sie vor einem Bett an einem Stuhl spielt (Child Playing: Annette Roussel in Front of a Wooden Chair, 1900) und wie sie gefüttert wird (Woman Feeding a child (Annette Roussel Daughter of Ker Xavier Roussel), 1901). Im Kunsthaus Zürich befindet sich ein Gemälde, das die beiden bei Vuillard zeigt, wie sie Hausaufgaben machen (Annette et Jacques Roussel faisant leur devoir, 1906). Sie sitzen am Tisch in der Pariser Wohnung an der Rue de la Tour, in der Vuillard mit seiner Mutter lebt.
Die kleine, von der Londoner Galerie Stephen Ongpin Fine Art verkaufte Pastell und Kohle Zeichnung auf festem Papier Annette au Vaucresson zeigt Vuillards Nichte mit Anfang zwanzig zu Besuch in Vaucresson, das westlich von Paris liegt. Hier verbringt Vuillard zwischen 1917 und 1924 jedes Jahr einen Teil des Sommers. Annette sitzt am Balkon des kleinen Hauses Le Closerie des Gênet, das Vuillard zusammen mit seiner Mutter gemietet hat. Links sitzt Madame Vuillard. Die beiden Frauen sind offensichtlich in ein Gespräch vertieft. Vuillard ist auch für seine zur eleganten jungen Dame herangereifte Nichte, die an Melancholie leidet, ein wichtiger Vertrauter. Selbst nach ihrer Hochzeit mit dem Maler Jacques Salomon (1885–1965), einem großen Bewunderer Vuillards, bleiben sie in regem Briefaustausch.
Édouard Vuillard Annette au Vaucresson, (um 1920) Courtesy Stephen Ongpin Fine Art, London
Vuillards späte Jahre
Vuillard, Roussel und Bonnard arbeiten 1937 gemeinsam für das Théâtre national de Chaillot in Paris. Vuillard wird 1938 als Nachfolger von Paul Émile Chabas in die Académie des Beaux-Arts gewählt. Im selben Jahr gestaltet er die Dekoration für den Palais des Nations (Völkerbundpalast) in Genf. Vor den heranrückenden deutschen Truppen verlassen der der bereits erkrankte Künstler und die Pariser Galeristen Lucy und Jos Hessel 1940 Paris. Vuillard stirbt kurz danach am 21. Juni 1940 im Alter von 71 Jahren im Hotel Castel Marie-Louise in La Baule an der Atlantikküste der Bretagne und wird im Familiengrab am Pariser Friedhof Cimetière des Batignolles beigesetzt.
Seine Werke befinden sich heute weltweit in großen Kunstmuseen wie im Puschkin-Museum in Moskau oder in der National Gallery of Art in Washington D.C. und sind auf vielen Ausstellungen u.a. 1964 auf der documenta III in Kassel, 1977 im Seibu Museum of Art in Tokio oder 1990 in einer Retrospektive im Musée des Beaux-Arts in Lyon zu sehen.
Autorin: Verena Traeger
Quellen
Besset, Maurice (Redaktion)
1961 Von Bonnard bis heute. Meisterwerke aus französischem Privatbesitz, Ausstellungskatalog, München: Haus der Kunst in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft der Freunde des Musée National d’Art Moderne in Paris, S. 40
Modern Arts Galerie
1959 Bonnard Russel Vuillard, Ausstellungskatalog der Modern Arts Galerie im Kunstverein München
Ketterer Kunst
https://www.kettererkunst.de/bio/EdouardVuillard-1868-1940.php
Knerger
http://knerger.de/html/vuillardbild__kunst_42.html
Kunsthaus Zürich
https://collection.kunsthaus.ch/de/collection/item/3484/
Stephen Ongpin Fine Art
https://www.stephenongpin.com/object/791067/0/annette-at-vaucresson
Wikipedia Roussel
https://de.wikipedia.org/wiki/Ker-Xavier_Roussel
Wikipedia Vuillard
https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%89douard_Vuillard