Heidi Goëss-Horten © Ouriel Morgensztern
“I am proud, with my collection and the construction of the museum, to have created something lasting, which future generations will also be able to experience when they visit my museum and take joy in the art that has given me such joy for so long.”
Heidi Goëss-Horten
Yves Klein
RE 1 (Rélief Éponge Bleu), 1958, IKB-Pigment, synthetisches Harz und Naturschwämme auf Leinwand, 200 × 165 cm
„Für die Farbe! Gegen Linie und Zeichnung!“
Kleins Schlachtruf als Künstler und Ordensbruder
Als Sohn der französischen Malerin Marie Raymond (1908–1989) und des niederländisch-indonesischen Malers Fred Klein (1898–1990) wuchs Yves Klein in einem künstlerischen Umfeld auf.
Vier Jahre (1939–1943) verbrachte er mit den Eltern in der südfranzösischen Künstlergemeinde von Cagnes-sur-Mer, wo die Maler Hans Hartung (1904–1989) und Nicolas de Staël (1914–1955) zu den engen Freunden der Familie zählten. Früh spürte Klein ein intensives Farberleben und begann, sich mit der psychologischen Wirkung und Bedeutung einzelner Farben zu beschäftigen.
Während eines Londonaufenthalts 1949/50 mit seinem Jugendfreund Claude Pascal entstanden Kleins erste monochrome Bilder: Aquarelle und Pastelle. In London erlernte Klein im Rahmengeschäft von Robert Savage die Technik der Vergoldung mit Blattgold, die später in seinem Werk eine große Rolle spielen sollte. Vor ihrer Rückkehr schickten Klein und Pascal ihrem in Frankreich zurückgebliebenen Freund Arman eine Postkarte mit einem rosa Monochrom als Vorderseite und der Nachricht „Das Jahr 1951 wird ein rosa Massaker werden“ (in: Stich 1994:25). In der noch richtungslosen Jugendzeit notierte Klein am 14. März 1952 in sein Tagebuch: „Der Tag ist blau, die Stille ist grün, das Leben ist gelb […]“ (in: Stich 1994:29). Seine Unterkunft in Tokio, wo er sich 1952/53 zum Judostudium am angesehenen Kodokan-Institut aufhielt, behängte Klein mit einem Dutzend Monochromen, jedes in einer anderen Farbe.
Schließlich wurde das dunkle Ultramarinblau Kleins Farbe. Das kostbare Ultramarinpigment, aus dem man auch das „Fra-Angelico-Blau“ herstellte, wurde bis ins 19. Jahrhundert aus dem Pulver des blauen Lapislazuligesteins gewonnen und ursprünglich über das Meer nach Europa gebracht (wodurch es seinen Namen erhalten hat). Für den in Nizza geborenen Künstler war Blau nicht nur die Farbe des Meeres und des Himmels, es verkörperte auch „das Undefinierbare und die Unendlichkeit des Raumes“. Blau ermögliche „reines Gefühl und reines Sehen“ und stehe „außerhalb der Dimensionen, deren die anderen Farben teilhaftig sind“ (Klein in: Stich 1994:78). In den unendlichen blauen Meeres- und Himmelsflächen sah Klein die Freiheit eines grenzenlosen Raums. Den Himmel bezeichnete er als „erstes und größtes Monochrom“, als „immaterielles Gemälde, das Reisen ins Jenseits ermöglicht“ (in: Stich 1994:19), und beanspruchte ihn als sein erstes Kunstwerk. Künstler sollten nach Klein „über die Kunst hinausgehen und individuell an der Rückkehr zum wirklichen Leben arbeiten, in dem der denkende Mensch nicht länger der Mittelpunkt des Universums ist, sondern das Universum der Mittelpunkt des Menschen“ (in: Stich 1994:159).
Yves Klein: Farbe als Essenz der Freiheit
„Yves Klein betrachtete Farbe als Essenz und Agens der Freiheit, besonders weil sie die Erfahrung einer fremden und zutiefst menschlichen und universellen Sensibilität ermöglichte“ (Stich 1994:67). Farbe war für Klein „ein Individuum, ein Charakter, eine Persönlichkeit“ (in: Stich 1994:66). Sie war Trägerin der immateriellen und spirituellen Sensibilität seiner monochromen Malerei. In Gaston Bachelards Buch L’air et les songes: essai sur l’imagination du mouvement (Luft und Träume: ein Essay über die Imagination der Bewegung) fand er die Bestätigung: „Zuerst ist das Nichts, dann ein tiefes Nichts, und schließlich eine blaue Tiefe“ (Bachelard in: Stich 1994:78).
Klein wollte keine mit Öl oder anderen Bindemitteln vermischten Farben verwenden. Diese hatten ihren Farbreichtum und ihre Poesie verloren. „Sie schienen ihm tot [...] nichtssagend und blaß“ (Stich 1994:59). Er anerkannte zwar die Impastoeffekte, die mit dick aufgetragenem Farbmaterial erreicht werden konnten, aber sobald die Farben getrocknet waren, verschwand auch deren eigentliche Magie. Klein faszinierten die reinen, leuchtenden Farbpigmente in Puderform, wie man sie direkt vom Farbenhändler erhält. Diese haben noch ihr „natürliches, außergewöhnlich autonomes Leben“ (Klein in: Stich 1994:59). Klein wollte „Farbe in Reinform“ (in: Stich 1994:59), „Pigmentpartikel in totaler Freiheit“ (in: Stich 1994:60) und suchte Mitte der 1950er-Jahre mit seiner Mitstreiterin, Judokollegin und Geliebten, der Architektin Bernadette Allain, nach den technischen Lösungen und dem geeigneten Medium, „mit dem man das reine Pigment auf dem Malgrund fixieren konnte, ohne es zu verändern“ (Stich 1994:60).
IKB 159 (International Klein Blue), 1961, Heidi Horten Collection, The Estate of Yves Klein/Bildrecht Wien, 2023
„Kunst ist absolute Freiheit, sie ist Leben. Sobald sie durch irgendetwas eingesperrt wird, ist die Freiheit bedroht und das Leben wird zum Gefängnis.“
Klein
Mit Unterstützung von Édouard Adam, dem Besitzer eines Künstlerbedarfsgeschäfts auf dem Montparnasse, und eines Ingenieurs im Chemiekonzern Rhône Poulenc gelangten sie zu einer Lösung: Das Pigmentpuder musste mit einer speziellen farblosen Substanz aus Ethylalkohol, Ethylacetat und Vinylchloridharz vermischt werden. Diese Mischung, die von Rhône Poulenc unter dem Namen „Rhodopas M oder M60A“ (Stich 1994:60) vertrieben wurde, war zwar giftig und trocknete sehr schnell, sodass weder lange Arbeitsphasen noch Retuschen möglich waren, doch sie führte zur gewünschten optischen Qualität der Farboberfläche. Um alleiniger Besitzer dieser Farbe zu werden, ließ Klein sie unter dem Namen IKB – International Klein Blue patentieren. Die Bezeichnung benutzte er ab 1957, und das Patent mit der Nummer „63471“ erhielt er am 19. Mai 1960 (Stich 1994:259).
In Anlehnung an Pablo Picassos Blaue und Rosa Periode entwickelte Yves Klein seine „Blaue Revolution“, zu der sich später große Werkkomplexe in Blattgold und intensivem Rosa gesellten. Ihn beschäftigten konkrete Handlungsvorschläge für die blaue Bewegung, die das Denken und Handeln der Menschheit verändern würde.
Die „Verbreitung einer blauen Sensibilität“ erkannte er selbst im 1958 produzierten Hit Volare – Nel blu dipinto di blu des italienischen Sängers Domenico Modugno (1928–1994). In einem Brief vom 18. Juni 1958 an Werner Ruhnau (1922–2015), den Architekten des Musiktheaters in Gelsenkirchen, in dem Klein seinen einzigen öffentlichen Auftrag zu Lebzeiten ausführen konnte, bezeichnete er den italienischen Welthit als „monochromes Lied“.
Seine Monochrome, „die beständig einen einzigen Ton ohne Variation oder segmentierte kompositionelle Struktur wiederholen“ (in: Stich 1994:81), waren das ultimative Ziel. „Diese auf das Bewußtsein der Immaterialität des Atomzeitalters abgestimmte Form der Abstraktion verkörperte seiner Ansicht nach die Vergänglichkeit der Dinge und des Lebens“ (Stich 1994:81).
Die Schönheit des Blaus in einem Schwamm
Um in seinen Monochromen einen fließenden Farbauftrag zu erhalten, verwendete Yves Klein statt Pinseln meist Naturschwämme. Eines Tages bemerkte er bei der Arbeit „die Schönheit des Blaus in einem Schwamm“ (Klein in: Stich 1994:89). Ihn faszinierte die außerordentliche Fähigkeit des Schwammes, sich mit welcher Flüssigkeit auch immer vollzusaugen. Diese Fähigkeit des Absorbierens machte den Schwamm zur Metapher des Durchdringens und Imprägnierens, die Klein mit seiner Kunst verfolgte. So wurde sein Arbeitsinstrument zum wichtigsten Element seines künstlerischen Vokabulars, und die erste Schwammskulptur entstand, die er 1957 in seiner Personale in der Pariser Galerie von Iris Clert erstmals präsentierte.
Ein Jahr später entstand das erste große Schwammrelief RE 1 (Rélief Éponge Bleu), das sich heute in der Heidi Horten Collection befindet. Klein arbeitete damals auch mit Werner Ruhnau an den großen Schwammreliefs zur Wandgestaltung im Foyer des Gelsenkirchener Musiktheaters, das 1959 eröffnet wurde. Das Gelsenkirchener Großprojekt wirkte in Bezug auf Kleins Schwammreliefs wie ein Katalysator. Es mussten logistische Fragen wie Konservierung, Reinigung und dauerhafte Anbringung der Schwämme geklärt werden. Architekt und Künstler diskutierten selbst die Herkunft (Tunesien oder Griechenland) und die Qualität der Naturschwämme. Zum Künstlerteam, das Klein bei der Realisierung unterstützte, zählte auch sein Freund Jean Tinguely (1925–1991).
Kleins Schwammreliefs versetzen den Betrachter in einen innerlichen Ausnahmezustand. Man blickt auf ein blaues Paralleluniversum voll atemberaubender Schönheit und berauschender Entleertheit und taucht in eine Welt ein, die vollkommen in Farbe versunken und vom Ultramarin durchdrungen ist. Die aus den Tiefen des Meeres gewonnenen, in Blau getränkten Naturschwämme, meist kombiniert mit in Blau getauchten Kieselsteinen, künden vom weit entfernten Grund des Ozeans und bezaubern durch ihre der Welt entrückte, außerterrestrische Immaterialität voll friedlicher Stille und übernatürlicher Ruhe, wie man sie nur in den Urgründen der Seele erfühlen und im Traum erschauen kann.
Das große Schwammrelief RE 1 (Rélief Éponge Bleu) ging durch Kleins plötzlichen Tod am 6. Juni 1962 in den Besitz seiner jungen Witwe über. Erst am 21. Januar 1962 hatten Rotraut Uecker (geboren 1938) und Yves Klein in der Kirche Saint-Nicolas-des-Champs in Paris geheiratet. Die Braut trug bei der Zeremonie zu ihrem weißen Kleid eine IKB-blaue Krone und der Bräutigam den Ornat des St.-Sébastian-Ordens, in den er am 11. März 1956 in derselben Kirche feierlich aufgenommen worden war. Klein verstarb nur ein paar Monate nach der spektakulären Hochzeit und hinterließ seine junge Frau, die im sechsten Monat schwanger war. Nach dem Tod des Künstlers wurde RE 1 u. a. in den großen Klein-Personalen 1969 in der Galleria Civica D’Arte Moderna in Turin und 1971 im Kunstverein Hannover ausgestellt.
Nach Kleins Tod begann ein Streit der Erben Kleins mit Werner Ruhnau um dessen Miturheberschaft beim Gelsenkirchener Blau. Ab dem Jahr 2006 führten und verloren Kleins Witwe Rotraut Klein-Moquay (geborene Uecker; 1968 heiratete sie Daniel Moquay) und sein Sohn Yves Klein junior mehrere Prozesse gegen den Architekten. Laut Ruhnau (Höving 2013) konnte das IKB-Blau wegen seiner Feuergefährlichkeit in Gelsenkirchen nicht verwendet werden. Daher wurde aus Gelsenwasser, Caparol-Binder und einem Ultramarinpigment ein eigenes Blau entwickelt, mit dem Klein später berühmt wurde.
Yves Klein und Rotraut Uecker in ihrer Wohnung in Paris
Yves Klein und Lucio Fontana in der Mostra delle Nature in der Pariser Galerie Iris Clert im November 1961
Yves Klein, RE 51, 1959, einst im Besitz von Lucio Fontana, 2012 bei Christie’s auktioniert
Durch die Ausstellung Proposte monocrome, epoca blu (Monochrome Vorschläge, Blaue Epoche) im Januar 1957 in der Mailänder Galleria Apollinaire wurde die italienische Avantgarde auf Kleins Monochrome aufmerksam. Klein stellte damals erstmals elf monochrome Tafeln im gleichen tiefen Ultramarinblau und im gleichen Format (78 × 56 cm) aus. Zur Ausstellung schrieb der Kunstkritiker Pierre Restany, Kleins Monochrome seien „befreiende Vorschläge“ und ein „Phänomen freier Kontemplation“. Klein führe den Betrachter „in ein BLAU, losgelöst von aller funktionalen Rechtfertigung“, es gehe nicht darum, „Mondrian oder Malewitsch zu überbieten: Blau dominiert, regiert, lebt. Es ist das Blau des Königs aller Grenzüberschreiter, das Blau der Fresken von Assisi. Diese volle Leere, dieses Nichts, das alles Mögliche umfaßt, diese übernatürliche, authentische Stille der Farbe, die schließlich, jenseits von Anekdotik und formalem Verstand, die unsterbliche Größe eines Giotto ausmacht“ (in: Stich 1994:81).
Für Lucio Fontana waren Kleins Monochrome eine Bestätigung der eigenen Arbeit, „denn auch ihn beschäftigten monochrome Malerei und die Erfassung des grenzenlosen Raums“ (Stich 1994:82). Beide Künstler waren bestrebt, die konzeptuellen und visuellen Grenzen traditioneller Malerei und Skulptur zu überwinden.
Noch am Eröffnungsabend in Mailand stellte sich Fontana Klein vor und kaufte ein Monochrom. Im September 1957 unterzeichneten die beiden mit anderen Künstlern, darunter Kleins Jugendfreund Arman, das Manifest Contro lo Stile (Gegen den Stil). Bis zu Kleins Tod verband die beiden eine enge Künstlerfreundschaft.
Fontana besaß mehrere Werke von Klein, die dessen wichtigste Werkkomplexe abdecken: das Monochrom IKB 100, das blaue Schwammrelief RE 51, das er bei der Eröffnung von Kleins Ausstellung Basreliefs dans une forêt d’éponges im Juni 1959 gekauft hatte, Monogold MG 42, die Schwammskulptur SE 20 und die Anthropometrie ANT 136. In seinem letzten Interview (in: Trini 1988:34) sagte Fontana über Klein, der innerhalb des kurzen Zeitraums von rund zehn Jahren als Künstler große Pionierarbeit geleistet und ein umfangreiches Œuvre hinterlassen hat: „Klein is the one who understands the problem of space with his blue dimension […]. He is really abstract, one of the artists who have done something important.“
Die Antropometrien: Körperabdrücke auf Leinwand
ANT 50 (Anthropométrie), 1960, Heidi Horten Collection, The Estate of Yves Klein/Bildrecht Wien, 2023
ANT 23 (Anthropométrie), 1960, Heidi Horten Collection, The Estate of Yves Klein/Bildrecht Wien, 2023
Im Februar 1960 schuf Klein seine ersten Anthropometrie-Gemälde. In jenem Jahr entstanden auch die beiden Anthropometrien ANT 23 und ANT 50. Klein umgab sich nach eigener Aussage zur Inspiration in seinem Atelier gerne mit Aktmodellen, da diese „ein sinnliches Klima schufen, das seine Monochrome stabilisierte“ (in: Stich 1994:171). Ursprünglich wollte er seine Modelle nur blau anmalen, dabei erkannte er, dass „die Zeit des Pinsels vorbei und mein Wissen über Judo schließlich doch noch von Nutzen war. Meine Modelle waren meine Pinsel. Ich ließ sie sich mit Farbe bemalen und ihren Körper auf einer Leinwand abdrücken […]. Aber das war nur der erste Schritt. Danach entwarf ich den Abdruck einer Art Mädchenballett auf einer großen Leinwand, die der weißen Matte der Judo- kämpfe glich“ (in: Stich 1994:171–172). Die rückseitige Beschriftung von Ant 50: „Klein 1960 Peinture executée en collaboration avec le modèle Héléna selon le systeme démontré chez Godet en 1958“ (Klein 1960 Malerei ausgeführt in Zusammenarbeit mit dem Model Héléna gemäß dem 1958 bei Godet gezeigten System), verweist auf Kleins spektakuläre Abendveranstaltung am 5. Juni 1958 bei Robert Godet. Godet war ein exzentrischer Abenteurer und Judomeister, der 1960 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam. Klein ließ an jenem Abend vor Godets Gästen erstmals sein mit blauer Farbe bemaltes Aktmodell Héléna – im Gegensatz zu den späteren Abdrucken von ruhenden oder sich bewegenden Körpern – sich über das am Boden liegende Papier wälzen, um mit ihrem blau eingefärbten Körper ein monochromes Gemälde zu schaffen.
Zur ersten großen Anthropometrie-Vorführung lud Klein am 9. März 1960 um 22 Uhr in die exklusive Pariser Galerie internationale d’art contemporain in der Rue Saint- Honoré am rechten Seineufer. Vor hundert festlich gekleideten Gästen dirigierte er im Smoking mit weißer Krawatte und Malteserkreuz des Sebastian-Ordens seine drei Aktmodelle, während drei Violinisten, drei Cellisten und drei Chorsänger die Monotone Symphonie aus einem Akkord spielten. Die Aktmodelle bemalten ihre nackten Körper mit Schwämmen, die mit blauer Farbe getränkt waren. Zwei der Modelle drückten nach Kleins Anweisungen ihre blau bemalten Körper auf die an der Frontwand hängenden Papierbahnen, während ein drittes blau bemaltes Modell über das am Boden gespannte Papier gezogen wurde. Der Künstler wurde zum Regisseur und Produzenten seiner Kunst und die Modelle zu seinen Werkzeugen.
An Kleins Anthropometrien fällt nicht nur die Verbindung zum schattenhaft-flüchtigen Körperabdruck auf, der beim Hinfallen eines Judoka auf die Dojo-Matte entsteht, sondern auch die Konzentration auf den Körpermittelpunkt, die auf der Verlagerung vom Geistigen zum Körperlichen basiert. Gemäß jenem dem Judo innewohnenden „Konzept vom Körper als Zentrum der physischen, sensuellen und spirituellen Energie, dessen Kraft in der disziplinierten Entladung der Energie liegt“ (Stich 1994:172), wird der Körper zum existenziellen Zentrum des Menschen. Gleichzeitig verweisen Kleins Anthropometrien auch auf dessen geistige Verankerung im christlichen Glauben im Sinne der Wiederauferstehung des Leibes bzw. des Fleisches.
„Mir fiel sehr schnell auf, daß es der Block des Körpers war, also der Rumpf und noch ein Teil der Schenkel, was mich faszinierte. Die Hände, die Arme, der Kopf und die Beine waren nicht von Bedeutung. Nur der Körper lebt, ist allmächtig und denkt nicht. Der Kopf, die Arme und Hände sind nur intellektuelle Verlautbarungen rings um das Fleisch des Körpers! […] Gewiß, der ganze Körper besteht aus Fleisch, aber die eigentliche Masse sind Rumpf und Schenkel. Genau hier befindet sich das wirkliche Universum der verborgenen Schöpfung“ (Klein in: Stich 1994:175).
Klein positionierte seine Anthropometrien durchaus in der Nachfolge prähistorischer Handabdrucke, die Urmenschen vor Jahrtausenden mit Erdfarben auf Felswänden und in Höhlen hinterlassen hatten. Darauf verweist z. B. der Text der Einladungskarte zur exklusiven Abendveranstaltung in der Galerie internationale d’art contemporain: „Die blaue Geste von Yves Klein durchläuft 40 000 Jahre moderner Kunst, um in dieser Morgendämmerung unseres Universums die anonyme Spur einzuholen, die in Lascaux oder Altamira das Erwachen des Menschen zum Bewußtsein seiner selbst und der Welt markierte“ (in: Stich 1994:175).
Yves Klein im Atelier in Paris bei der Herstellung einer Anthropometrie (rechts ein Schwammrelief), 1960
Yves Klein vor Anthropometrien (rechts ANT 50), 1961
Körperabgüsse als Künstlerporträts
Aufnahme von 1962, während der Gipsabguss von Arman genommen wird
Yves Klein, PR-3 (Porträt-Relief von Claude Pascal), 1962, GAM – Galleria Civica d’Arte Moderna e Conteporanea, Turin
Yves Klein, PR-2 (Porträt-Relief von Martial Raysse,) 1962, Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris
„Meine Modelle waren meine Pinsel.“
Klein
In seinem letzten Lebensjahr, 1962, begann Klein, an einem kollektiven Porträt mit lebensgroßen Körperabgüssen von sich und seinen Künstlerfreunden zu arbeiten. Jede Figur sollte nach Art antiker griechischer und römischer Statuen in aufrechter Haltung und in IKB-Blau getaucht auf einer mit Blattgold vergoldeten Holztafel platziert werden. Nur sein eigenes Porträt sollte aus Gold sein und auf eine IKB-blaue Tafel montiert werden. Klein, der alle Mitglieder der im Oktober 1960 unter der Leitung des Kunstkritikers Pierre Restany gegründeten Künstlergruppe Les Nouveaux Réalistes mit Körperabgüssen in sein überdimensioniertes Werk integrieren wollte, konnte zu Lebzeiten nur mit den Gipsabgüssen seiner drei Freunde Arman, Claude Pascal und Martial Raysse beginnen.
Arman, eigentlich Armand Pierre Fernandez (1928– 2005), der als „Künstler Arman“ bekannt wurde, und Claude Pascal waren wie erwähnt Jugendfreunde Kleins. Sie hatten sich 1947/48 als 19-Jährige in Nizza beim Judo kennengelernt. Klein verbrachte damals ein Jahr in Nizza bei der Schwester seiner Mutter, Tante Rose, die er liebevoll „Tantine“ nannte. Klein und Arman interessierten sich für bildende Kunst, während Pascal dichtete. Der jüngere Martial Raysse (geboren 1936 in Golfe Juan, Vallauris), der ebenfalls in Nizza aufgewachsen war, schloss sich erst in Paris Kleins Kreis von Künstlerfreunden an, zu dem auch Jean Tinguely zählte.
Die drei Jugendfreunde Klein, Arman und Pascal interessierten sich für die japanischen Ursprünge des Judo, für Zen und Buddhismus, Astrologie und die Lehren der Rosenkreuzer. Klein war von der christlichen Mystik der Kosmogonie beeindruckt, die das Ende des Zeitalters der physischen Materie (Form, gefangener Geist) und des Ichbewusstseins sowie die Rückkehr zum Zeitalter des Raums und des reinen Geistes prophezeite. Im Jahr ihres Kennenlernens meditierten die drei Freunde stundenlang im Schneidersitz oder auf dem Bauch liegend und lauschten der Stille auf dem Speicher von Armans Elternhaus. Ganze Nächte hindurch blickten sie in äußerster Konzentration den Mond an. Sie wollten über sich hinausgehen und im geistigen Seinszustand völlig leer werden. Gemeinsam praktizierten sie strenges Fasten und versetzten sich damit in rauschähnliche Zustände. Sie hatten den Eindruck, ihre Körper verlassen und in den Raum, in die Leere eindringen zu können. Im Keller des Möbelgeschäfts von Armans Vater schufen sie sich eine Höhle. Die Decke des dunklen Raumes strich Klein hellblau, eine Wand dekorierte er mit Hand- und Fußabdrücken. Er entwarf damals auch Hemden mit Hand- und Fußabdrücken sowie Schriftzeichen, die er und Pascal jahrelang trugen.
Klein wollte der beste Judoka werden und trainierte schon in seinem ersten Trainingsjahr in Nizza dreimal die Woche. Später unterrichtete er phasenweise als Judolehrer, schrieb Bücher und konzipierte Filme über Judo. Im September 1947 erhielt Klein den Weißen Gürtel des Neulings, im Dezember 1947 den Gelben, im Mai 1948 den Orangen, im September 1948 den Grünen, im Oktober 1950 den Blauen, im August 1951 den Braunen und im Juni 1952 den Schwarzen Gürtel. Am Kodokan-Institut, der angesehensten Judoschule Japans, erreichte er im Januar 1953 den Grad des Ersten, im Juli 1953 den Grad des Zweiten und im Dezember 1953 den Grad des Vierten Dan (den Grad des Dritten Dan übersprang er). Als er aus Japan zurückkehrte, war Klein wahrscheinlich der beste Judoka Frankreichs.
Kodokan-Judo ist kein Kampfsport, sondern eine auf der Philosophie des Zen basierende Kunstform. Ziel ist, wie im Zen, die Erleuchtung durch das Beschreiten des Pfades der Stille. Es geht um „ein erweitertes Bewußtsein für die Macht des Nichts“ (Stich 1994:39). Die Lehren beeinflussten auch Kleins künstlerisches Schaffen.
Die groß angelegte Mehrfigurengruppe musste unvollendet bleiben, da Klein wie erwähnt am 6. Juni 1962 unerwartet verstarb. Nur die Figur von Arman konnte er selbst vollenden. Armans Gipsabguss wurde noch zu Kleins Lebzeiten in Kunstharz gegossen und auf eine vergoldete Holztafel montiert. Die Gipsabgüsse von Arman (PR 1), Raysse (PR 2) und Pascal (PR 3) wurden 1965 nach Kleins Tod mit Zustimmung seiner Witwe von der Fonderie Susse in Paris in Bronze gegossen. Rotraut Klein autorisierte von jeder Figur sechs Verkaufs- und sechs Vorzugsexemplare.
In Kleins Werk nehmen die drei Porträtreliefs aufgrund des naturgetreuen Abgusses eine Sonderstellung ein. Die ursprünglich als überdimensionale Selbstverherrlichung konzipierte Figurengruppe – Klein sollte ja im Kreise seiner blauen Gefolgschaft als goldene Skulptur erstrahlen – ist durch den Tod des Künstlers auch inhaltlich ein Torso geblieben, der in seinem ganzen Unvollendetsein seinen drei Freunden ein künstlerisches Denkmal setzt. Die in IKB-blau getauchten nackten Torsi (bis zum Knie) von Arman, Pascal und Raysse vor dem schimmernden goldenen Hintergrund erinnern an das Konzept von anwesender Abwesenheit und an Kleins Beschäftigung mit Spurensymbolik und Immaterialität. Durch ihre einheitliche Haltung und die monochrome Atmosphäre scheinen sie aus einer undefinierbaren Welt zu entstammen und sich Raum und Zeit zu entziehen.
PR-1 (Portrait-Relief d’Arman), 1962–1965 (Entwurf 1962, Ausführung 1965), Heidi Horten Collection, The Estate of Yves Klein/Bildrecht Wien, 2023
„Der einzige Weg, im Leben zu kämpfen, besteht darin, ein wenig dieses Unendlichen zu ergreifen und es zu nutzen.“
Klein
Autorin: Verena Traeger
Quellen
Christie’s
2012 FC 1, Sonderpublikation zur Auktion Post War and Contemporary
Art Evening Sale am 8. Mai, New York
Höving, Elisabeth
2013 Yves-Klein-Erben verlieren den Prozess gegen MIR-Architekt, in: WAZ, online seit 24.10.2013
https://www.waz.de/staedte/gelsenkirchen/yves-klein-erben-verlieren-prozess- gegen-mir-architekt-id8598361.html
Stich, Sidra
1994 Yves Klein, Stuttgart/Ostfildern: Hatje Cantz
Trini, T.
1988 The last interview given by Fontana, in: Wim Beeren & Nicholas Serota (Hg.), Lucio Fontana, Ausstellungskatalog, Amsterdam
Truong, Alain R.
2012 True Blue: Christie’s Tribute to Yves Klein,
online: http://www.alaintruong.com/archives/2012/06/06/24437564.html
Yves Klein und Claude Pascal 1948 in Nizza